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Neurophenomenologie

In der Bewusstseinsforschung treffen qualitative und quantitative Forschungsmethoden aufeinander und somit sehr unterschiedliche Ansichten darüber, was als verlässliche Datenerhebung gilt. Die Unterschiede basieren hauptsächlich auf der Frage, inwieweit 1st person data, demnach Narrationen des eigenen Erlebens, als Daten nutzbar sind. Unter dem Oberbegriff der Neurophänomenologie wird interdisziplinär an neuen Erhebungsmethoden gearbeitet, die qualitative und quantitative, experimentelle und neurobiologische Forschung zusammenführen. Obwohl ein Konsens noch nicht in Sicht scheint, werden doch zunehmend neue methodologische Vorschläge entwickelt.


1st person data steht für Daten, die direkt das Erleben beschreiben. Hierbei gibt es zwei Strömungen. Introspektive Methoden bitten entweder Menschen, von ihrem Erleben in Bezug auf konkrete Stimuli zu berichten. Vertieft geht es jedoch um Berichte des eigenen Erlebens ohne Bewertung. Hierzu erhalten sie im Vorfeld Training und ihre Kompetenz läuft mit in die Datensätze ein. Die Forschenden übersetzen dann die Erzählungen in quantitative Daten. Phänomenologische Methoden wiederum gehen zurück auf Edmund Husserl und beschreiben stark geleitete qualitative Interviews. In einem ersten Schritt üben beide gemeinsam durch offene Fragen die eigene Erfahrung zu beschreiben, ohne sie zu bewerten (epoché). Dann wird die Befragte durch eine konkrete Erfahrung geleitet und um Beschreibungen aus vielen Perspektiven gebeten. Schließlich werden diese Ergebnisse und die Schlüsse der Forschenden in einer Wissenschaftsgemeinschaft vorgestellt und diskutiert. Die Validation erfolgt durch die Gemeinschaft, die Daten werden nicht quantifiziert, sondern bleiben als Narrativ in der ersten Person bestehen.


3rd person data beschreibt auf der anderen Seite das, was wir klassischerweise aus der naturwissenschaftlichen Methode erwarten: objektiv messbare Daten. Hierbei werden beispielsweise Daten über Gehirnaktivitäten im EEG oder MRT zusammengetragen.


Die Herausforderung in der Bewusstseinsforschung ist es nun, 1st person und 3rd person Datensätze zusammenzuführen und in Beziehung zueinander zu setzen.


In den momentanen Forschungsanordnungen sieht es so aus, als würden die Testpersonen hierfür Training benötigen. Sie müssen lernen, ihre eigenen mentalen Prozesse zu beobachten, zu verstehen und zu beeinflussen. Erst wenn sie in der Lage sind, das reine Erleben zu beschreiben, sind ihre 1st person Daten relevant. Zusätzlich erfordert die Kombination der verschiedenen Datenerhebungen Erfahrungs-Cluster, um die Ergebnisse verschiedener Gruppen vergleichen zu können (beispielsweise Proband:innen waren auf die Frage vorbereitet oder nicht).


Ein Teil der Lösung scheint darin zu liegen, dass der Prozess um 2nd person data ergänzt wird. Hierbei begleitet eine Person den gesamten Prozess und führt die erste Person durch den Bewusstseins- und Beschreibungsprozess. Da diese Person dann bei verschiedenen Probant:innen anwesend ist, kann sie gemeinsame Erfahrungen identifizieren, die vorher nicht in einem Cluster festgelegt wurden. Einigkeit besteht darüber, dass diese Form von Forschung eine besondere Haltung sowie ein sehr hohes Maß an Selbstreflexion voraussetzt. Sie ist weder subjektiv (1st person) noch objektiv (3rd person), sondern intersubjektiv. Die zweite Person muss daher einerseits in der Lage sein, die Erfahrung der anderen in sich abzubilden, andererseits über ein hohes Maß an Unterscheidungsfähigkeit zwischen dem Eigenen und dem Fremden verfügen sowie situative Einflüsse auf die Verschiedenheit des Erlebens erkennen können. Forschungsmethoden werden so ergänzt um die „Perspektive auf eine Perspektive“ und erfordern ganz neue Kompetenzen von Wissenschaftler:innen.


Methoden, die mit 2nd person Methoden arbeiten, sind beispielsweise das Descriptive Experience Sampling nach Hurlburt und das Elicitation Interview nach Vermersch.


Buchempfehlung: „On Becoming Aware: A Pragmatics of Experiencing (Advances in Consciousness Research, Band 43)“ von Nathalie Depraz, Francisco Varela und Pierre Vermersch, in dem die Autor:innen beschreiben, wie wir uns unseres eigenen (Er-)Lebens bewusst werden und wie wir dieses in experimentelle und erforschbare Handlungen umsetzen können.


Quelle: Olivares, Francisco A.; Vargas, Esteban; Fuentes, Claudio; Martínez-Pernía, David; Canales-Johnson, Andrés (2015). Neurophenomenology revisited: Second-person methods for the study of human consciousness. Frontiers in Psychology, Vol 6, Article 673

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